von Julian Voth
Dieser Tage ist mir Leo XIII. besonders präsent, oder genauer gesagt, seine Dichtkunst. Papa Pecci schrieb schon italienische und lateinische Gedichte, lange bevor er Papst war. Das erste Erhaltene im Alter von 11 Jahren zur Erstkommunion, in der Studienzeit trat er der poetischen »Gesellschaft der Arkadier« bei ... aber zur größten Blüte gelangte sein dichterisches Schaffen wohl erst mit der Papstwahl. Hier konnte er sich Erholung verschaffen, seine Gebete in kräftige Hymnen und demütige Bitten fassen, Freunde ermuntern, erheitern ... aber nicht zuletzt auch der schweren Last des Amtes, der Sorge um Welt und Christenheit im goldenen Latein des Horaz und Vergil Ausdruck verleihen. So fügte er also an die Dreifachkrone auch noch den Lorbeer der Lyrik.
Das Gedicht, welches ich hier in einer freien Übertragung wiedergebe, könnte womöglich auf den ersten Blick etwas unpassend erscheinen. Der Jahreswechsel steht noch nicht an, und ein neues saeculum feierten wir vor einigen Jährchen. Aber ist das letzte Jahrhundert nicht auch wie das 19. ein langes? Vieles jedenfalls schleppen wir selbst noch mit in dieses neuerliche Fin de Siècle ... oder aber ächzen noch unter der alten Last. Und ziehen nicht vielleicht auch schon die Zeichen eines neuen Läuterungsfeuers auf, wie der erste Weltenbrand, in dessen Stahlgewittern gleichsam eine neue Erde wie unterm Schmiedehammer feurig-gewaltsam geformt ward? Mir scheint jedenfalls, dass folgende Verse, am 31.12.1900 verfasst, genauso gut ein gutes Jahrhundert später passen, wenn nicht noch besser:
Zum Ende sich neigt die gepriesene Zeit,
Die Künste und Wissen geehret,
Des Weltalls Kräfte enthüllt und genutzt,
Die Wohlfahrt des Volkes gemehret.
Es singe, wer mag, nun im Liede ihr Lob! -
Mich drängt es, mit Schmerz zu beklagen
Beim Scheiden das Weh, vom Jahrhundert gebracht!
Ich schaue mit Zittern und Zagen
Die Male der Schande im Spiegel der Zeit:
Entsetzliches, blutiges Morden,
Zerschlagene Zepter und Throne und Gräu'l
Entfesselter, zuchtloser Horden:
Ich sehe, o Jammer, vom schmählichen Krieg,
Mit tausend Ränken erfunden,
Die Feste umtobet des Vatikans,
Die Zierde der Weltstadt geschwunden:
Die Fürstin der Städte der Krone beraubt,
In Würden durch Knechtschaft getragen,
Die Heimat der Päpste, Jahrhunderte hehr
Und Völkern, in Trauer und Klagen:
Gewichen von Gott ist das Recht und Gesetz,
Verschwunden die Tugend, der Glaube:
So fällt, vom Altare gerissen, das Recht
Dem Zweifel, der Willkür zum Raube.
Vom Wahnwitz betört, ein verruchtes Geschlecht -
Hört! - Sätze voll Bosheit ersinnet,
Die stumpfe Natur als waltende Macht
Der Gottheit zu preisen beginnet,
Der Menschheit Uranfang und edleren Keim
In albernem Dünkel beklaget,
Der Tier und Menschenwelt Grenze und Kluft
Verwirrend, Gebilden nachjaget.
Es mehrt sich die Frechheit anmaßend und dreist,
Das Hehrste wird schamlos verachtet,
Selbst Christi Gebot, sein Wesen und Werk
Als Märchen und Posse betrachtet.
Wie wälzt sich im Pfuhle der Laster der Stolz
In blindem, ohnmächtigen Wüten!
O wollet, ihr Menschen, in heilsamer Furcht
Die göttliche Satzung stets hüten!
Denn Er, euer Leben, die Wahrheit allein,
Die Pforte des Himmels, die wahre,
kann wenden allein euch Kindern des Staubs
Zum Heile die fliehenden Jahre.
(...)
O Jesus, du Richter der künftigen Zeit!
Dem neuen Jahrhundert zum Segen
Die trotzigen Völkern mit göttlicher Kraft
Erhalte auf besseren Wegen.
Froh lasse die Saaten des Friedens gedeih'n!
Haß endlich und Aufruhr entschwinde
Und Kriegsnot! Der Ruchlosen Arglist und Trug
Verbann' in der Hölle Abgründe!
O lenke die Fürsten! Sie dränge ein Geist
Sich deinen Geboten zu fügen!
Ein Hirte soll leiten die einige Herd',
Ein Glaube auf Erden obsiegen!
– Übersetzt von Bernhard Barth: Des Papstes Leo XIII Sämtliche Gedichte nebst Inschriften und Denkmünzen. Köln: J.P. Bachem 1904, S. 111f. Das lateinische Original findet sich z.B. in Joseph Bach: Leonis XIII P.M. Carmina. Inscriptiones. Numismata. Gleicher Verlag, 1903 - beide Personen waren interessanterweise am Bischöflichen Gymnasium St. Stephan zu Straßburg tätig.