von Julian Voth
Gewöhnt hat sich der traditionsverbundene Katholik schon seit langem an – wohlwollend ausgedrückt – zweifelhafte Aussagen aus den Reihen der kirchlichen Hierarchie bezüglich des Glaubens und der Sitte. Ein besonders schweres Kreuz, das ohne übernatürliche Hilfen kaum tragbar erscheint, wird dem Kirchenvolk durch die Anhänglichkeit des obersten Glaubenslehrers an gewisse weltliche Migrationsagenden aufgebürdet, die an diesem Orte kaum neuerlich geschildert werden müssen.
Das sich die Kirche seit jeher für die Entrechteten und Ärmsten der Armen eingesetzt hat, ist kein Geheimnis, vielmehr werden gerade sie als eigentlicher Schatz der Kirche bezeichnet. Und die hl. Familie,
dem Zorn des gottlosen Königs entfliehend, erhebt sich sowohl durch ihre Wanderung nach Ägypten als auch durch ihr Flüchtlingsleben in Ägypten über alle Zeiten und Räume hinweg als Gleichnis, Vorbild und Schutz für jede Art von Emigranten, in der Fremde Lebenden und Flüchtlingen, die aus Furcht vor Verfolgung oder unter dem Druck der Not gezwungen werden, ihre Heimat, die lieben Eltern und Verwandten, die teueren Freunde zu verlassen und in die Fremde zu ziehen. (Apostolische Konstitution Exsul familia, 1952, 1)
Wer vermag sich also Christenmensch zu nennen und gleichzeitig Flüchtlingen, in denen das Abbild der hl. Familie zu erkennen ist, die Hilfe verweigern?
Schaut man sich jedoch das Zitat an, das in graphischer Form diesem Artikel vorangestellt ist, zeigt sich doch das Bild einer Kirche, das den Nationen einen Eifer in der Bewahrung ihrer Eigenheiten zugestand. Es stammt vom selben Pontifex, der obige Zeilen verfasste.
Nun können beide Aussagen nicht verabsolutiert werden. Beide sind wahr, aber innerhalb eines gewissen Kontextes. Oder um in der Sprache der Philosophen zu sprechen: Beide sind wahr secundum quid, jedoch nicht simpliciter.
In der Flüchtlingsfrage bewegen wir uns in einem Spannungsfeld, das schon die Antike zu Zeiten Alexanders bewegte. Ist menschliche Solidarität nur möglich entlang der eng umhegten Gemarkung der eigenen Polis – basierend auf Banden der Freundschaft und des Blutes – oder ist sie universal, grenzübergreifend, und umfasst – begründet auf dem hehren Prinzip der Vernunft – das ganze Menschengeschlecht?
Bislang erreichte nur eine Gesellschaftsordnung eine glückliche Synthese beider Ideale: Die mittelalterliche Christenheit. Die Christenheit war ideell eine universale Gemeinschaft, in der alle Getauften Freunde und Mitbürger der Stadt Gottes waren. Nur Mohammedaner und Juden wurden als Fremde erachtet. Als Ganze stand die Christenheit unter der Autorität des Papstes, der dem Kaiser das weltliche Schwert anvertraute. Diese Ordnung wurde jedoch subsidiär gestützt durch die Verfolgung des Gemeinwohls der kleineren Gemeinschaften der Königreiche und Fürstentümer, Graf- und Herrschaften, der Klöster, Städte und Dörfer.
In der Moderne wurde der Begriff patria plötzlich anders verstanden. Er galt nicht mehr für den Ort der Geburt oder die mystische Stadt Gottes, sondern den Nationalstaat. Aristoteles Lehre von der Polis wurde nicht mehr auf die Gemeinde, sondern das ganze Königreich angewandt. Das Endergebnis war, dass dieses neue Konzept die schlechtesten Seiten beider Ideale verband: Dem Nationalstaat fehlt das verbindende Element der Freundschaft und Blutsbanden seiner Bürger, dafür behält er den Hass auf das Fremde bei. Er kann nicht mehrere Völker einen wie die alten Reiche, aber er strebt nach imperialer Herrschaft und uneingeschränkter Dominanz.
Nach den Schrecken der Weltkriege fasste ein neues, rationalistisches Ideal Fuß: die globale Solidarität begründet auf einer säkularen, liberalen Vorstellung von Menschenrechten. Freilich kann aus diesen trockenen Begriffen keine echte Solidarität erwachsen, wie sie allein die soziale Herrschaft des Christkönigs schenkt.
Wie kann aber nun der Christ in einer säkularen Welt mit diesen beiden widerstreitenden Idealen umgehen, die beide keine christlichen sind, in Anbetracht der gegenwärtigen Krise? Wohl mit einem Blick auf das Naturrecht, das die Kirche immer wieder formulierte.
Wir hören noch einmal Pius XII.:
Ihr wisst, mit welchen Ängsten und Sorgen Wir jener gedenken, die infolge des politischen Umsturzes in ihrem Vaterland oder aus Mangel an Arbeit und Brot die Heimat zu verlassen und ihren Wohnsitz ins Ausland zu verlegen gezwungen sind. Dass ihnen die Wege zur Auswanderung offen stehen, empfiehlt nicht weniger die Achtung vor dem Menschen als das Naturrecht selbst. Der Schöpfer aller Dinge hat in erster Linie die Gesamtheit der Güter zum Wohl aller Menschen erschaffen. Deshalb darf die Grundherrschaft der einzelnen Staaten, wenn sie auch zu achten ist, nicht so gesteigert werden, dass, während die Erde ringsum eine Fülle von Lebensmitteln für viele darbietet, aus ungenügenden und unbilligen Gründen den anderswo geborenen und wohlgesitteten Bedürftigen der Zutritt verweigert wird, sofern dies dem gerecht abgewogenen öffentlichen Interesse nicht widerspricht. (Exsul familia, 57)
Tatsächlich ist die Migration aus Sicht des Naturrechts ein Menschenrecht. Tatsächlich verpflichtet die Gerechtigkeit die reicheren Nationen dazu, den Armen zu helfen, da Gott die Gesamtheit der Güter zum Wohle aller Menschen erschuf.
Doch sehen wir zwei Einschränkungen: Zunächst beziehen sich die Pflichten der wohlhabenderen Nationen auf die Grundbedürfnisse des Lebens. Zum anderen darf der Zutritt nicht aus »ungenügenden und unbilligen Gründen«den »wohlgesitteten Bedürftigen« verweigert werden, es sei denn, dies widerspricht dem öffentlichen Interesse – oder vielleicht besser übersetzt: dem Gemeinwohl.
So zeigt die immerwährende Lehre der Kirche bzw. das Naturrecht ein ausgewogenes Bild und bietet einen wesentlich breiter interpretierbaren Handlungsmaßstab, als es die Oberen – nicht nur der katholischen Kirche – derzeit nahelegen.
Abschließend bemerkt: Die Sorge der Kirche, zumindest in der Nachkriegszeit, in der sich der Heilige Stuhl mit der Flüchtlingsfrage eingehend beschäftigte, galt zuvorderst der geistlichen Betreuung oder Seelsorge der Vertriebenen. Das Heil der Seelen als höchster Auftrag der Kirche darf also auch in dieser Frage nicht zugunsten rein innerweltlicher Aufgaben hintangestellt werden.